Über 100.000 Kinder und Jugendliche lebensverkürzend erkrankt

  • Studien belegen: Bedarf an Kinderhospizarbeit in Deutschland viel höher als gedacht.
  • Deutsche Kinderhospiz Dienste fordern mehr Unterstützung der Politik.

 Infografik DKD

Info-Grafik: zur freien Verwendung unter Angabe der Quelle „Deutsche Kinderhospiz Dienste e. V.“

Dortmund, den 8. Oktober 2024 – Emil ist todkrank. Der Dreijährige hat einen Gendefekt, seine Gehirnhälften sind nicht richtig miteinander verbunden. Er kann sich nicht bewegen, nicht sprechen, nicht sehen und ist rund um die Uhr pflegebedürftig. Die Belastungen, die seine Eltern schultern, sind speziell. Und doch sind sie damit nicht ganz allein. Nach der extremen Isolation in Emils erstem Lebensjahr rufen sie die Deutschen Kinderhospiz Dienste an. Als sie mit dem ambulanten Dienst in Dortmund Kontakt aufnimmt, lernt die Familie schnell, wie wichtig solche Hilfsangebote sein können.

Emil ist kein Einzelfall: Über 100.000 Kinder in Deutschland sind todkrank

Der Begleitungsbedarf für todkranke Kinder und Jugendliche in Deutschland ist viel höher als angenommen. „Von über 100.000 betroffenen Kindern und Jugendlichen in Deutschland werden etwa 3.500 durch einen der 180 Kinder- und Jugendhospizdienste in Deutschland begleitet“, schätzt Thorsten Haase, Gründer und Geschäftsführer der Deutschen Kinderhospiz Dienste e. V. in Dortmund. „Bislang wurde in der Branche von 50.000 betroffenen Familien ausgegangen“, so Haase weiter, „aber das ist viel zu wenig!“ Das Problem: Sie werden oft durch die bestehenden Angebote nicht erreicht. „Über 96.000 dieser Kinder und ihrer Familien leben in einem Dunkelfeld. In diesem Dunkelfeld zu leben, bedeutet, den Weg in soziale Isolation und fehlende Teilhabe zu gehen. Dieser Weg endet zu oft in völliger Verzweiflung.“

Familienministerin Paus bestätigt Anzahl an 100.000 betroffene Familien

Auch Bundesministerin Lisa Paus (Die Grünen) geht von rund 100.000 betroffenen Familien aus. Anlässlich der Pressekonferenz zum Erklärfilm „Hospizarbeit und Palliativversorgung für Kinder und Jugendliche", eines Gemeinschaftsprojektes mehrerer Branchenpartner im November 2023, sagte die Ministerin: „In Deutschland leben rund 100.000 junge Menschen mit lebensbedrohlichen und lebensverkürzenden Erkrankungen. Den größten Teil ihrer Versorgung schultern ihre Familien.“

Ambulante kinderhospizliche Angebote müssen ausgebaut und bekannter werden

„Viele Familien kennen ihre Rechte nicht und nehmen die Hilfsansprüche mangels Informationen nicht wahr“, erläutert Thorsten Haase. „Sie sind trotz gesichertem Anspruch mit der Bürokratie zusätzlich zur Care-Arbeit zuhause komplett überfordert. Über die Kranken- und Pflegekassen finanzierte Leistungen werden häufig abgelehnt, sodass die Familien in den Widerspruch gehen müssen. Das zehrt an den Kräften und verringert die viel zu kurze Lebenszeit ihrer erkrankten Töchter und Söhne zusätzlich auf unerträgliche Weise.“

Das gesellschaftliche Bild, das von Hospizarbeit vermittelt wird, ist stark auf die letzte Lebensphase mit Sterben und Tod bezogen. Kinderhospizarbeit wird jedoch vorwiegend zur Entlastung und Unterstützung genutzt, denn je nach Erkrankung kann es von der Diagnose bis zum Versterben sehr lange, manchmal Jahre, dauern. „Wir merken, dass es bei den Familien einen großen Aufklärungsbedarf gibt und oft eine Hemmschwelle, die kostenfreien Angebote zu nutzen“, beschreibt Haase seine Erfahrungen in der ambulanten Arbeit.

Das Dunkelfeld erhellen

„In Deutschland herrscht eine Unterversorgung, weil es nicht ausreichend Dienste und Kapazitäten gibt“, so der Gründer Haase weiter. „In der Kinderhospizarbeit ist es schwierig, alle Betroffenen zu erreichen, denn die Mehrzahl todkranker Kinder lebt quasi im sozialen Dunkel und abgeschottet zuhause in meist völlig überlasteten Familien. Selbst wenn sie in Behandlung sind, bleiben sie zuhause in der Regel unbetreut.“ Deshalb wollen die Deutschen Kinderhospiz Dienste den Selbsthilfegedanken durch den Hilfegedanken ersetzen. „Wir warten nicht, bis wir angerufen werden“, erklärt Haase, „sondern sprechen die Kinder, Jugendlichen und Familien aktiv über unser eigenes, seit Jahren aufgebautes medizinisches und nichtmedizinisches Netzwerk an. Unsere Verantwortung ist es, die ‚Unsichtbaren‘ sichtbar zu machen und ihnen Lebensqualität und Lebensfreude zurückzubringen.“

Unterstützung durch Politik dringend erforderlich

In Deutschland haben alle betroffenen Familien einen gesetzlichen Anspruch auf die von der WHO (Word Health Organisation, Weltgesundheitsorganisation) empfohlene Hilfe: Diese besteht wesentlich in der Begleitung durch einen ambulanten Kinder- und Jugendhospizdienst, in einem jährlichen vierwöchentlichen Entlastungsaufenthalt in einem stationären Kinder- und Jugendhospizdienst und jederzeit angemessener ärztlicher und pflegerischer Hilfe. Haase: „Leider kann die bestehende Hilfestruktur diesen gesetzlichen Anspruch in Deutschland nicht erfüllen.“

Die Deutschen Kinderhospiz Dienste appellieren deshalb dringend an die Politik, die finanziellen und strukturellen Rahmenbedingungen für die Kinderhospizarbeit in Deutschland zu verbessern. „Wir fordern die politischen Entscheidungsträger auf, dafür zu sorgen, dass Kinderhospizarbeit bedarfsgerecht und flächendeckend in Deutschland finanziert wird. Unterstützung der sterbenden Kinder und Jugendlichen sowie ihrer Familien darf nicht davon abhängen, wie geschickt ein Träger große Summen an Spenden einwerben kann oder wie reich die Eltern der betroffenen Kinder sind“, so Haase.

Unterschiedliche Ebenen der Unterstützung und Begleitung greifen zusätzlich zur medizinischen Versorgung abgestuft ineinander:  Ambulante Kinderhospizdienste, stationäre Kinderhospize und begleitende Entlastungs- und Hilfsangebote. Geschäftsführer Haase betont die Notwendigkeit, die Finanzierung von Kinderhospizdiensten zu sichern und den Zugang zu diesen Angeboten zu erleichtern, damit keine Familie ohne Hilfe bleibt: „Wir fordern die Träger von Kinderhospizarbeit auf, sich an der Entwicklung von Methoden und Strukturen zu beteiligen, die die Familien im Dunkelfeld aktiv, angemessen und barrierearm erreichen und wir bitten die bürgerschaftlichen Netzwerke in Deutschland und alle Menschen guten Willens, sich hinter das Ziel zu stellen in einer gemeinsamen Anstrengung, hospizliche Hilfe für alle todkranken Kinder und Jugendlichen und deren Familien in Deutschland bis 2030 unbürokratisch zugänglich zu machen. Unser Motto lautet deshalb: Wir lassen kein Kind allein!“

 

Über Deutsche Kinderhospiz Dienste:

Die Deutschen Kinderhospiz Dienste e. V. sind ein gemeinnütziger Verein. Berührt von der Situation betroffener Familien mit todkranken Kindern und Jugendlichen verfolgen wir das Ziel eines bedarfsgerechten Angebotes an kinderhospizlicher Begleitung für lebensverkürzend erkrankte Kinder, Jugendliche und ihre Familien – deutschlandweit bis 2035.

Im Sommer 2018 fanden die Deutschen Kinderhospiz Dienste ihren Ursprung – mit dem Aufbau des Kinderhospizdienstes „Löwenzahn“ in Dortmund nach einem ganz neuen Konzept. Eine moderne Hilfestruktur soll die Betroffenen über ein medizinisches Netzwerk ansprechen. Der Selbsthilfegedanke wurde durch den Hilfegedanken ersetzt. Emotionale und praktische Hürden zur Inanspruchnahme der Hilfe wurden konsequent auf ein Minimum gesenkt. Ab 2020 wurde der Standort Bochum aufgebaut; im Jahr 2021 kamen Dienste in Frankfurt am Main, Regensburg und Schwerin dazu; im Jahr 2024 ein Dienst im Westerwald.

Unsere Vision ist eine moderne Hilfestruktur in ganz Deutschland, die Familien aktiv aus der Dunkelheit holt, sie vertrauensvoll begleitet und deren Hilfeangebote sich an den Bedürfnissen der Familien orientieren. Gemeinsam mit Partnern, haupt- und ehrenamtlichen Fachkräften entwickeln wir ein flächendeckendes und bedarfsgerechtes Angebot in Deutschland. Das Ziel ist es, das Dunkelfeld von über 96.000 betroffenen Familien mit todkranken Kindern und Jugendlichen in Deutschland schnellstmöglich zu erhellen.

Wir lassen kein Kind allein!

www.deutsche-kinderhospiz-dienste.de

 

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